Zündstoff 2019

Multireligiöse Gesellschaft - verstehen wir uns?

16. September 2019

«Der schnellste Weg, über eine Sache klar zu werden, ist das Gespräch.» (Friedrich Dürrenmatt) – das Zitat stellte Martin Baumann seinem Input voran und traf damit auch den Kern der anschliessenden Diskussionen. Zuvor führte er jedoch zu Fakten und Wahrnehmungen der religiösen Diversität in der Schweiz aus. Gerade in den Städten hat man eine hohe Vielfalt an unterschiedlichen Religionen. In der Wahrnehmung der Gesellschaft begann die religiöse Diversifizierung erst in den 1970er Jahren – mit der Immigration. Dabei ist der Prozess viel älter. Man spricht von einer gewachsenen, religiösen Vielfalt, die im 16. Jahrhundert begann und bis ins 20. Jahrhundert andauerte. Zeitgleich mit der Immigration in den 1970er begann die Mitgliedererosion in den etablierten Landeskirchen. Seitdem ist der Anstieg der Konfessionslosen ungebrochen.
Dieser Trend der Multireligiösität ist aber auch im Zusammenhang mit dem Anstieg der Konfessionslosen zu betrachten: denn der Grossteil der Gesellschaft ist religiös distanziert. Wie steht es in diesem Umfeld mit der Integration? Entscheidend dafür ist der Grad der Religiösität. Eigentlich wirkt sich nur Hochreligiösität hinderlich aus, da die Integration dann weitgehend unter Gleichgläubigen erfolgt (Binnenintegration). Als Indikatoren für erfolgreiche Integration werden Sprache, Bildung, Teilnahme am Erwerbsleben und Kontakte zur Aufnahmegesellschaft gesehen. Im europäischen Vergleich sind die Muslime in der Schweiz darauf bezogen überdurchschnittlich gut integriert.
Ob man sich versteht oder nicht, hängt wesentlich von Offenheit und Toleranz ab. Gerade bei Hochreligiösen, die einen exklusiven Anspruch für ihre Religion vertreten, werden eher Grenzen gezogen. Ähnlich kann aber auch eine säkulare Haltung wirken, die Religion als schädlich ansieht. Hinderlich wirken vor allem Zuweisungen von Stereotypen (Bedrohungswahrnehmung von Muslimen und Juden). So ist die Wahrnehmung der religiösen Diversifizierung dominiert von Muslimen, die de facto jedoch nur 5 % der Gesellschaft ausmachen. Hier besteht eine Kluft zwischen gelebtem Alltag und der Bedrohungswahrnehmung. Und das zeigt sich auch in der Wahrnehmung, dass in der Schweiz der Islam als konfliktträchtig angesehen wird, obwohl hier die Muslime sehr gut integriert sind.

Diese Einschätzungen wurden von den Podiumsteilnehmenden Sena Kuzören, Vertreterin der Kasernenmoschee und der Basler Muslim Kommission, und Lars Wolf, Lehrbeauftragter interreligiöses Lernen, Mediator bestätigt. So gehen Kinder mit verschiedenen Religionen unproblematisch und natürlich um. Erst mit der Individualisierung in der Jugend («Wo gehöre ich hin?») und der Wahrnehmung der medialen Darstellungen, die sie an den Pranger stellen, wird es schwierig und führt zu Verteidigung und Rückzug.
Einig ist man sich über die Bedeutung des Dialogs zwischen den Religionen. Dafür ist Interesse und Offenheit notwendig, sich ein eigenes Bild zu machen – und nicht das Vorgefertigte aus den Medien zu übernehmen. Hier sei Differenzkompetenz gefragt: weg vom «ich» und «die Anderen» zu dem:«Wir sind unterschiedlich».
Dieser Dialog braucht die Möglichkeit zu Kontakten, aber auch Kenntnisse über die Religionen. Hier wurde dann der Basler Religionsunterricht diskutiert - Basel ist der letzte Kanton, der diesen anbietet. Im Verständnis von Lars Wolf ist der ökumenische Unterricht wichtig, um interreligiöse Kompetenz und Lebensplausibilität zu vermitteln. Ob es nun Religions- oder Ethikunterricht sein soll – das wurde unterschiedlich beurteilt. In jedem Fall sollte dem Religionen-Analphabetismus entgegengewirkt werden. Bisher aber zu wenig beachtet wird dabei die Rolle der Konfessionslosen – sowohl an der Diskussion an diesem Abend wie auch generell!

Babyboomer gehen in Rente - auf Kosten der Jungen?

26. August 2019

Thema der fünften Zündstoff-Veranstaltung war der Generationenvertrag.
J. Cosandey von Avenir Suisse, Experte für Finanzierbare Sozialpolitik, wies in seinem Input darauf hin, dass der Generationenvertrag mehr umfasst als nur den finanziellen Aspekt der Altersvorsorge. Erst wenn es keine oder zu wenig familiäre Unterstützung gibt, greifen Zivilgesellschaft und der Staat mit finanziellen und Sachleistungen ein. In diesem System sind wir in den verschiedenen Lebensphasen mal Gebende und mal Nehmende. Schon deshalb greift die Polarisierung «Die Alten leben auf Kosten der Jungen» zu kurz.

In der Podiumsdiskussion mit C. Knöpfel von der Fachhochschule Nordwestschweiz, Sozialpolitik und S. Gretler Häusser, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, wurden die Prognosen zur Altersvorsorge und Alterspflege kritisch beleuchtet. Unbestritten ist, dass die mit der Alterung der Gesellschaft einhergehende Verschiebung des Verhältnisses von Aktiven (Arbeitenden) und Passiven (Rentner*innen) die gesetzliche Altersvorsorge belastet. Denn das AHV-System ist anfällig für demographische Schwankungen und basiert auf der Annahme von Wirtschaftswachstum. Daher müsse die AHV auf andere Beine gestellt werden, bspw. durch Erhöhung des Rentenalters. Aber entscheidend ist auch die wirtschaftliche Prosperität: Neben den bisher prognostizierten Entwicklungen von Fachkräftemangel und wachsendem Seniorenmarkt könnten vor allem die Folgen der Digitalisierung für die Entwicklung der Wirtschaft entscheidend werden.
Die Dramatik des demographischen Wandels hängt weniger von den Kopfzahlen ab, als vielmehr von der wirtschaftlichen Prosperität. Und selbst die Zahlen zur Be­völ­ke­rungsentwicklung sind mit Unsicherheiten behaftet. So ist es nicht sicher, ob das Lebensalter immer weiter steigen wird und damit auch die Prognosen zum Anstieg der Pflegekosten. Bezogen auf die Gesundheit gibt es ständig Veränderungen in den Altersgruppen und so bleibt es ungewiss, ob die Lebenserwartung abflacht oder weiterhin massiv zunimmt und damit auch der Anteil Hochaltriger linear ansteigt.

Was bisher im Rahmen der Alterspflege nicht bzw. zu wenig berücksichtigt wird, ist die Bedeutung der Betreung. Mit dem Rückgang familiärer Strukturen wird diese zunehmend wichtiger. C. Knöpfel forderte sogar ein Anrecht auf Betreuung und eine Einbindung in sozialarbeiterliche Strukturen. Denn bereits jetzt sind ca. 30 % im Altersheim, weil ihnen soziales Kapital fehlt und nicht, weil sie pflegebedürftig wären. Nur – wie soll das finanziert werden?
Da die Alterspflege kantonal organisiert ist, gibt es entsprechend viele verschiedene Lösungsansätze.   Mit Auswertungen und Austausch über die erfolgreichen und weniger erfolgreichen Strategien, die in den verschiedenen Kantonen angewendet werden, können im Lernlabor Schweiz die Massnahmen erprobt und weiterentwickelt werden. Flexibilisierung als Schlüssel für die ungewisse Zukunft.

Wie können wir uns als Gesellschaft für die Zukunft wappnen? Als Grundvoraussetzung wird Einkommenssicherheit und Vollbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt gesehen. Und wirtschaftliche Prosperität für das Gros der Gesellschaft. Wichtig sind ausserdem Betreuungsmöglichkeiten für«Jung und Alt». Denn mit guter Familienpolitik und Förderung der Frauenerwerbstätigkeit ermöglicht man auch mehr Frauen die Erwerbstätigkeit und macht gleichzeitig auch gute Alterspolitik. Ausserdem wird das freiwillige Engagement der fitten Pensionär*innen als ein grosses Potenzial für die Gesellschaft angesehen. Und im Alterspflegebereich muss der Lernprozess zwischen Kantonen, Organisationen und Politik koordiniert und moderiert werden. Vor diesem Hintergrund vergaben die Podiumsteilnehmenden der Schweiz nur ein befriedigend, vor allem wegen der langen (politischen) Entscheidungsprozesse und Adaptionsschwierigkeiten. In Skandinavien und Holland ist man da besser aufgestellt, da schneller auf die Entwicklungen reagiert wird.

Fazit: Es gibt keinen Kampf von «Jung» gegen «Alt», man hält an der Generationensolidarität fest. Das bestätigten auch die Voten aus dem Publikum. Der Generationenvertrag muss aber auch verlässlich sein, damit auch die «Jungen» motiviert sind, sich einzugeben. Und dafür müssten noch mehr Themen debattiert werden, wie z.B. der altersfeindliche Arbeitsmarkt und die «Baustelle» BVG.